GUNTHER

Heinz hätte sich eines abgewöhnen sollen, bevor er mit Gunther um die zerfallenen aber total hippen Ruinenclubs Berlins zu ziehen begann: Fremdschämen.
Gunther hatte nie viele Freunde gehabt, denn fast alle sind mit seiner überdreht unangenehmen Art nicht klargekommen und haben dann eines Tages naserümpfend den Kontakt abgebrochen, Gunthers Telefonnummer gleich demonstrativ aus dem Adressbuch des Telefonspeichers gelöscht.
"Du solltest dicke Nerven haben, wennde das ech' durchziehn willst, Heinz!", hatte Gunther gemurmelt, nachdem er von seinem Kumpel den Plan vorgeschlagen bekommen hatte, den neuen, total abgefahrenen Club am Alexanderplatz mal durchzunehmen.
"Ausserhalb meiner Wohnung verwandle ich mich in ein... nun ja..."
Heinz hatte gelacht, Gunther - dem bedrohlichen Ausgangswerwolf - einen Klaps auf die Schulter gegeben und sich zum Kühlschrank umgedreht. Da war noch Bier drin.
Lange ging es gut, Gunther tanzte ausgelassen und gut gelaunt, flirtete zwar etwas frech aber durchaus im Rahmen einer geordneten Zivilisation und nippte von Zeit zu Zeit gemächlich an seinem Drink.
"HALLO BERLIIN!", schrie der Sänger der Band, die für Heinz' Geschmack ziemlich gut war, in sein von Klebeband zusammengehaltenes Mikrofon. "SEID IHR GUUT DRAUF?"
"JAA!", schrie Gunther. Das war nicht seltsam, nicht peinlich, es schrien fast alle. Einige schmunzelten, die Augen geschlossen, ob der naiven Einfachheit, mit der sich die Clubbesucher in Stimmung bringen liessen.
Gunther kreischte. Seine Stimme bebte durch den Raum, immer höher und zitternder.
"Ja, Jaa, JAA, JAAA!"
Heinz riss die Augen auf. Die Luft vibrierte sowie Gunther lauter und lauter wurde, Kontrollverlust! Heinz stiess seinen Freund an, mit beiden Händen, wollte ihn einfach ruhigstellen, Gunther holte keine Luft, muss denn der nicht atmen? Dezibel versprühende Schreie, Trommelfelle spannten sich die Wellen zerrissen jedes Atom das noch einen Rest Stille in sich trug und mischten Unbehagen mit Schmerz Trauer mit Hass.
Jemand schlug Gunther, er fiel hin und war tot.
Zweihundert Nachtclubbesucher hoben synchron ihre Köpfe und die schützenden Hände von den Ohren. Was sie jetzt fühlen, werden sie noch Jahre erzählen, ihren Kindern auch.
Es war still.
Die Luftcreme war völlig klar und regungslos, man spürte die absoluten, pursten und reinsten Nicht-Töne aller Zeiten erklingen. Niemand bewegte sich oder atmete, keiner wollte auch nur eine winzige Schallwalze anstossen, statische Labilität wahren Genusses.
Gunther stöhnte noch einmal knirschend, zog seine Gliedmassen zusammen und erschlaffte endgültig. Das war zuviel!
In den Ohren der anderen hatte es nie ein lauteres Geräusch gegeben, wie konnte man nur solch heilige Ruhe VERNICHTEN?
Alle traten sie auf die Leiche ein, wutentbrannte, zornerfüllt und rissen an ihm, bis er in kleinen blutigen Fetzen verteilt auf der Tanzfläche lag, Stückenweise, wo sie weiterfeierten.