Als sie jung gewesen war, hatte sie viel mit ihrem Vater geredet. Er hatte ihr Geschichten erzählt, sie vor den Gefahren des Lebens gewarnt und sie getröstet, wurde sie wieder einmal von Klassenkameraden ausgelacht.
Heute ist sie nicht mehr jung und ihr Vater tot. Niemand erzählt ihr mehr Geschichten, ausser ihr krankes Gehirn, das sich eine eigene Realität zurechtmalt. Niemand warnt sie mehr vor den Gefahren des Lebens, ausser ihre Erfahrung. Niemand tröstet sie, aber das ist in Ordnung, denn ihre Klassenkameraden sind alle tot.
Sie sass auf ihrem Sofa und dachte über die Welt vor den milchigen Fenstern nach. Alle tot. Alle, die in ihrem Quartier aufgewachsen sind, alle, mit denen sie ihre Kindheit und Jugend verbracht hat. Unter der Erde, unter dem Asphalt. Wenig gab es, das Susann heute noch erschütterte. Doch dass sie die Einzige war, die die Zeit überlebt hatte, das beschäftigte sie ziemlich häufig.
Sie mochte sich noch gut daran erinnern, dass der Mann, der Minister, am Fernsehen gesagt hatte, dass die Zeit nun abgeschafft sei. Man habe es beschlossen. Sie hatte sich erst freuen wollen, weil ja dann viel Platz blieb für menschliche Beziehungen. Schnell hatte sie aber gemerkt, dass sie niemanden kannte. Das Leben ohne Zeit ist aber ganz in Ordnung für Susann, sie hatte sich daran gewöhnt.
Irgendwann klopfte es an Susanns Tür und sie dachte: Was für ein Klischee, gleich zu Beginn des Epos. Denn sie sah das Ende schon lange. Genau wie den Anfang.
Sie öffnete die Tür und ein fremder Mann stand da und wieder dachte sie: Klischee. Aber dann sah sie plötzlich nicht mehr, wohin alles führen würde. Der Mann lächelte.
"Wer sind sie?", fragte Susann und dachte an alle ihre Freunde unter dem Asphalt. Der Mann lächelte. Er zeigte ihr eine Uhr, eine Taschenuhr, an ein Goldkettchen geschweisst. Sie tickte. Und die Uhr auch.