Der Philosoph

Er rennt, er rennt,
verrennt sich, denkt.
Liegt im Koma, Traumpuls versiegt,
stirbt an Überdosis
Realität.

glühen


«Kohles erster Versuch bestand im Kaufen eines Notizheftes. Es hatte weisse, nicht von einem vorgedruckten Gitter eingesperrte, dicke Seiten; 84 an der Zahl und einen mit schwarzem Faden gebundenen Rücken. Kohles Problem offenbarte sich ihm, als er am Tisch sass, einen gespitzten Bleistift fest in der linken Faust, und sich überlegte, was er zu tun gedachte. ‹Dieses Heft›, sagte er leise, ‹ist noch ganz leer. Die Seiten sind Leinwände, tragen unendliches Potenzial.› Auf diesem Papier könnte Van Gogh Blumen malen, könnten die französischen Revolutionsbriefe geschrieben stehen, oder das Drehbuch des Paten. Dieses Wachs, diese farb-, form- und sinnlose Masse, wollte er jetzt bannen, aus all den losen Faden-enden einen einzelnen herauszupfen, den weichen feuchten Ton formen und backen. ‹Doch wie!›, rief Kohle aus, ‹wie kann meine Kreation besser sein als diese unbegreifliche Vielzahl von möglichen Kreationen?› Der Künstler in Kohle brachte es nicht über sich, diese Schönheit zu zerstören – er war ja Ästhet. So schloss er das Heft weg, in seinen gläsernen Tresor, und hakte in seinem Kopf den ersten Versuch ab: Gescheitert.»

So endete meine Erzählung. Die Schüler hatten kaum zugehört. «Können wir nach Hause?», fragte einer von ihnen. Ich wollte sagen ‹Ihr könnt, was immer ihr zu können bereit seid› aber ich sagte ‹Ja›.

Am Abend war ich mir nicht mehr so sicher, ob ich in meinem Lehrberuf wirklich am richtigen Ort war, also fragte ich meine Frau Aisha nach der Antwort. Wie ich es aber so zu tun pflegte, tat ich es über eine Geschichte.

«Kohles zweiter Versuch bestand im Abschütteln aller Hemmungen. Er wollte an sein Ziel gelangen, in die oberste Etage des Lebensmittelkonzerns Morser. Ein Büro dort, das wär’s. Also besuchte Kohle eine Fachschule, lernte etwas über Lebensmittel und alles über Konzerne. Damals traf er auch Weinrad Weber, der ihm ein guter Freund wurde. Sie tranken zusammen Bier und redeten über Bücher, wenn es die Hausaufgaben der Fachschule an einem Wochenende einmal zuliessen. 

Und einmal geschah etwas sehr Bedeutendes: Weinrad traf eine Frau und verliebte sich in sie. Sie hatte sehr schöne blaue Augen. An den Wochenenden mit Bier begann Weinrad, die Gespräche über Bücher zu vergessen, er redete stattdessen über blaue Augen. Der Tag des Hochzeitstermins fiel nun unglücklicherweise auf den Tag der Abschlussprüfungen der Fachschule. Weinrad war verzweifelt. ‹Ich kann dir nicht helfen›, sagte Kohle traurig. ‹Es gibt einen Weg›, brummte Weinrad; er erklärte daraufhin Kohle den gefährlichen Plan.

Zwölf Tage später versammelten sich die Lernwilligen in einem Hörsaal zur Prüfung. Kohle war sehr nervös. Er starrte auf den leeren Stuhl neben sich, sonst sass Weinrad jeweils dort, heute nicht. Schade, denn dann wäre er um die schlimmen Dinge herumgekommen, die auf ihn warteten. Die Professorin war noch nicht da, Kohle schlich nach vorne und legte die kleinen Metallsterne auf ihren Stuhl. Weinrad hatte sie ihm gegeben und gewarnt. Als die Professorin, Prüfungsbogen unter dem Arm, in den Raum trat und Platz nahm, starb sie, denn die Sternspitzen waren Giftgetränkte. Die Prüfung wurde natürlich verschoben, wie hätte man sich bei all dem Notrufgeheul auch konzentrieren sollen?»

Meine Frau hörte noch immer aufmerksam zu. Wie schön und erfüllend. Sie wird übrig bleiben, wenn ich einmal nicht mehr bin.

«Weinrad und Kohle bestanden die Nachholprüfung. Mit Auszeichnung. Bald lag in Kohles Briefkasten ein Arbeitsvertrag – Qualitätsmanager bei Morser. Der erste Ton seiner Symphonie. Seinen ganzen Lohn investierte Kohle in seine Weiterbildung, lebte für das Ziel, die Ferne, das Ungewisse. ‹Heute mache ich einen Schritt vorwärts›, pflegte er sich jeden Morgen zu sagen.
Am elften Juni desselben Jahres war es dann so weit: Kohle löste A. Morser Sr. als Konzernchef ab. Das Gefühl, als er sich in den weichen, braunen Ledersessel fallen liess, würde er später als ‹unvergleichlich› bezeichnen. Da war er, verdiente viel, aber konnte es nicht mehr für Weiterbildung ausgeben, wozu auch? An der Spitze zahlte es sich einsam. Kohle hatte nie gelernt, mit erreichten Zielen umzugehen, und so notierte er sich: ‹Zweiter Versuch: Gescheitert›.»

Meine Frau riet mir, Golf zu spielen. Um die Nerven etwas zu beruhigen. Ich meldete mich also am nächsten Tag in einem passenden Club an, kaufte passende Schuhe und legte mir einen passenden elitären Blick zu, den ich stundenlang vor dem Spiegel im Wohnzimmer übte.

Alsdann stand ich das erste Mal auf dem Prachtrasen. Etwa zwei Meter vor mir schwang eine junge Dame mit schulterlanger blonder Wolle ihren Schläger durch die Luft. Sie traf krumm und lachte, während sie ihren Kopf in den Nacken warf. «Kimberley Wood ist mein Name», strahlte sie und streckte mir ihre zartweisse Hand entgegen. Ich sagte ihr, wie ich hiess, und am Abend schrieb ich Aisha den Abschiedsbrief. Geplant war also eine Flucht mit der Tochter des Golfplatzbesitzers, Herrn Wood, vor dem ich viel Respekt hatte, und sie gelang bestens in einem alten Wohnmobil.

Nach fünfzehn Jahren wilden Lebens wollten Kimberley und ich uns wieder etwas mässigen und kauften dazu eine Villa in den Bergen von Chile. Da sassen wir dann, ein Rotweinglas fest in der linken Faust, und sahen ins prasselnde Feuer des Cheminées. «Liebst du mich noch?», fragte Kimberley und ich antwortete:

«Kohles letzter Versuch war die Suche nach der Antwort. Mit dem Geld, das er als Konzernleiter verdient hatte, kaufte er sich Zeit zum Nachdenken in Form eines automatisierten Sparkontos, einer Wohnung und zwölf Zehnerpackungen Büchsenravioli. 

Er sass auf einem grün gewebten Teppich und die Frage vor ihm auf Papier. Es klang hohl unter seinen Schläfen, die Kopfschmerzen drehten sich um die Sorge, dass die Zeit nicht reichen würde. ‹Ich will es wissen›, murmelte Kohle. ‹Habe ich nichts gefunden, wofür ich brennen kann?› Kurze Pause. ‹Oder bin ich nicht willens und fähig genug, um zu brennen?› Er wog ab. Wer war schuld: Die Welt um Kohle oder Kohle? Der Mann beschloss, eine Münze zu werfen. Das stellte ihn aber vor ein weiteres Dilemma: Er musste es entscheiden, wollte die Entscheidung aber nicht kennen. Die Münze nicht anzusehen nach dem Wurf – dazu hatte er die Kraft nicht, und die Entscheidung wäre gar nicht gefallen.

Die Erlösung kam in Form eines Klopfens, Weinrad war es, er wollte über alte Zeiten reden. Kohle sagte: ‹Wirf bitte die Münze, merk dir das Ergebnis und decke sie dann mit einem Tuch zu.›

Kohle wollte die Möglichkeiten abwägen, Wahrscheinlichkeiten zusammenzählen, das Gitter spannen. Weinrad warnte ihn aber. Kohle solle sich doch an die Lehren der verstorbenen Professorin erinnern. ‹Ziehe die Mütze eines Systems erst über deine Gedanken, wenn du sicher bist, alles gedacht zu haben›, hatte die Frau in einer Lektion für Lebensmittelkunde gesagt. ‹Sonst zeigt dir das System Lücken, die du füllen zu müssen glaubst. Doch diese Gedanken sind nicht deine, sie sind Eigentum des Systems.› Also schwieg Kohle. Weinrad legte die zugedeckte Münze zum Notizheft. Die beiden Männer stiessen mit Bier an, die Dose der Leidenschaft blieb aber leer.»
Kimberley deutete das als ein Ja. Traurig ging ich zu meinem Elternhaus zurück. Es sah noch aus wie früher, an den Fensterläden klebte etwas brauner Rost, Wind pfiff durch ein zerschlagenes Fenster.

Auf dem Dachboden, ganz hinten, verdeckt, fand ich den Tresor; schlug ihn auf, da ich die Kombination vergessen hatte. Nahm das Notizbuch und begann zu schreiben. Wollte es so richtig offensichtlich machen. Wenn schon Kohle, dann sollen die Frauen Holz und Asche sein, ich dazwischen, eingeklemmt, nimmerglühend.
Aber der Sinn wird bei der Übersetzung ins Deutsche sowieso verloren gehen.